2007-08-08

AMIEL, HENRI FRÉDÉRIC

* 27. September 1821 in Genf; † 11. Mai 1881 in Genf.
auch wieder einer, der ein intensiver journal intime schreiber war : auf 17 000 seiten hat er es gebracht. so sehr und nur ‚intime’ waren diese aufzeichnungen nicht : er hat sie ausgeliehen (an potentiell zu ehelichende frauen, die er aber eigentlich dann doch nicht so sehr wollte), vorgelesen (an dieselben und andere). darin finden sich selbstbezichtigungen und –abwertungen (die schätzungen gehen dahin, dass 50 prozent der eintragungen ‚selbstkritisch’ sind), daneben sehr klare introspektionen, auch allgemeine lebensweisheiten, die heute gerne als kalendersprüche verwendet werden.
paul leautaud, robert walser, stendhal, fallen mir beim lesen ein (kafka nicht, da ist etwas noch ganz anderes am worten) – aber auch diese sind nur entfernte und nur teilweise berührende verbindungen. lassen wir amiel also alleine mit sich. und dann hat er das patriotische ‚roulez tambour’ gedichtet und in musik gebracht : weil die schweiz sich mit den preussen über neuenburg in den haaren lag : als das gedicht erschien, war der konflikt aber schon fast gleichentags bereinigt. die zeitgenossen mochten es aber, es stand auch in den 1960er jahren wieder als nationalhymne der schweiz im gespräch – er aber schämte sich ebensoschnell dafür, dass er sich so sehr hatte hinreissen lassen. selbst bezeichnet er sich als messie und hat seine pflichtaufgaben als professor sehr ungern erledigt : seine vorlesungen hat er im letzten moment vorbereitet, ist ihm das dann nicht gelungen, hat er zum thema des letzten semesters vorgetragen. stolz war er schon, dass er schillers glocke auf französisch übersetzt hat und dass die leute das mochten, fand er toll. seine französische version des erlkönigs wollte dann aber nicht so ganz zu schuberts musik passen, das wird dann nicht mehr sehr erwähnt.

unsympathisch wirkt das alles nicht, aber 17000 seiten möchte ich doch auch nicht lesen. und angaben zum ‚trivialen’ alltag findet man nicht : das war ihm alles zeitverschwendung – aber offenbar hat es dann doch irgendjemand für ihn erledigt : einkaufen, hemden bügeln, holz ins zimmer tragen. ausgiebige zeitverschwendung betrieb er mit seiner unordnung : er hat in seiner papierunordnung immer alles verlegt, nicht mehr gefunden – auch schuldscheine über 9000 francs, recht beachtliche summen zu der zeit und geld, das er dringend nötig hatte, weit mehr als sein jahreseinkommen von 2000 franc von der universität, hat er verlegt und kaum wieder gefunden : irgendwie hat er dann nach stunden des suchens doch einiges wieder gefunden und sich immer wieder vorgenommen, etwas ordnung zu machen – dazu ist es dann aber nicht gekommen, weil er das alles ins journal schreiben musste : eine weitere 'zeitverschwendung', die ihm viel angenehmer war.

„Welch verkommene Leidenschaft für das Zwecklose! Wenn eine Sache nur unnütz genug ist, dann schaffe ich es, ihr einen verbissenen Kult zu widmen, eine unermüdliche Hingabe. Aber vor der Pflicht, vor dem Notwendigen, dem Ernsthaften und vor allem dem Nützlichen – davor schrecke ich zurück.“

bitz trivia zum hier & jetzt 2007 : ein paar schuhbändel kosten bei mister minit chf 5.90. das hat mich etwas erstaunt, weil ich seit jahren keine schnürsenkel mehr gekauft habe. 4 portionen katzenfutter kosten 3.40. statt katzenfüttern könnt ich also jeden dritten tag ein paar schuhbändel kaufen : tolle sammlung! zigaretten kosten chf 5.80 - wenn ich nicht rauchen würde, könnte ich mir vielleicht auch eine kleine erotica-sammlung zulegen wie amiel - die er dann auch seiner freundin mal gezeigt hat - ohne heiratserfolg, weil ihre mitgift dann doch zu klein war. überhaupt hat er sich mit frauen schwergetan, obwohl er sich für einen profunden kenner der weiblichen psyche gehalten hat : zweimal scheint er auf selbstbewusste, intelligente, gebildete frauen gestossen zu sein : die hat er aber gleich von seiner 'potentiell-zu-ehelichen-liste' gestrichen : die wollten ihn aber auch gar nicht, nicht im entferntesten! die waren auch nicht überzeugt davon, dass männer in jeder beziehung einen kopf grösser sind als weibchen. warum er sich dann überlegt hat, eine 'psychologie der frau' zu schreiben, er, der wohl ziemlich sehr naiv und kenntnislos war in dem bereich, liesse sich mit 'die lücke, die erkannt wird, muss geschlossen werden' erklären : so ist das aber meistens dann doch nicht, bei ihm schon gar nicht. er hat die lücke immer wieder kunstvoll verlegt und selten gefunden, man ist gar nicht traurig darüber.

[se:070727/070808]

> de l'amour > stendhal > amiel, henri frédéric >

Keine Kommentare: